Eine Geschichte aus der Königsdisziplin des Managements - mit Erkenntnissen in Hinblick auf die Abweichung zwischen strategischer Absicht und tatsächlicher Umsetzung.
Eine Geschichte
Es war einmal ein engagierter Jungmanager, der im weiten Reich eines Großkonzerns mit Monopolstellung seinen Dienst versah. Als der König eines Tages erkannte, dass in anderen Ländern bereits verschiedene Liberalisierungsdrachen ihr Unwesen trieben, schickte er den Junker aus, diese Gefahr zu erkunden. Der Jungmanager machte sich also auf den Weg und kam mit einer trefflichen Idee zurück. Man könne sogar von der Existenz der Liberalisierungsdrachen profitieren, meinte er, wenn man statt in Angst zu erstarren, die neuen Freiheiten nützen würde, indem man verschiedene Drachen auf einem bestimmten Marktplatz des Königsreiches gegeneinander antreten lassen würde.
Der König des Reiches und alle Hofmarschälle schienen ob der präsentierten Idee sehr angetan und stimmten dem Plan, diesen Marktplatz für Liberalisierung zu gründen zu, und machten den Junker flugs zum "Haus & Hof- Realisierer" für diese neue Geschäftsidee. Hurtig und wohlgemut machte sich der junge Recke an die Arbeit, gründete eine kleine Firma mit passendem Banner und schickte sich an, Mitstreiter aus dem eigenen Königreich zu suchen. Seine Überraschung war groß als er merkte, dass es kaum Unterstützung aus dem eigenen Königreich gab. Zwar wurden ihm genug Goldstücke zur Verfügung gestellt, um kundige Berater und Drachenexperten zu bezahlen, aber bei der konkreten Umsetzung stieß er bei den anderen Vasallen des Königs manchmal auf Betonwände und viel öfter auf Gummiwände.
Bald erkannte er, dass er zwischen die Fronten zweier Hofmarschälle geraten war. Der eine, der die
wahren Interessen des Königs im Geheimen vertrat, wollte das Projekt verhindern, um die Liberaliserungsdrachen so lang wie möglich vom eigenen Reich fernzuhalten und strategisch die alleinige Macht zu erhalten. Der andere unterstützte die Idee wohl nach außen, aber vor allem, um sich selbst vor dem gesamten Hofstaat zu profilieren. Und so kam es, wie es kommen musste: Nach vielen Monden der Scheingefechte auf allen Unternehmensebenen, wunderbar ausgearbeiteter Strategien für viele Schubladen und zermürbender Hinhaltetaktiken ging der Manager-Junker zum König, um ihm die Sachlage kund zu tun, und ihm zu erklären, dass es unter solchen Umständen weder sinnvoll noch möglich wäre, diese Idee umzusetzen. Der König nickte hoheits- und verständnisvoll und beschied dann dem Junker, sich eine andere Position im Königreich zu suchen…Welche Erkenntnisse könnte man nun aus dieser kleinen Geschichte in Hinblick auf die Abweichung zwischen strategischer Absicht und tatsächlicher Umsetzung ziehen?
„Culture eats strategy for breakfast“- Das Zusammenspiel von Strategie und Unternehmenskultur
Hypothese: Nicht überall wo strategische Neuausrichtung drauf steht, ist auch Umsetzungsmöglichkeit drin. Manchmal werden Scheindrachen getötet, um von den wahren Strategien abzulenken.
Im Falle unseres engagierten Jung-Recken waren die unausgesprochenen Regeln des Konzerns (Öffnung zu anderen Märkten bedeutet monopolistischen Machtverlust und ist daher so lange wie irgendwie möglich zu verhindern) das de-facto unüberwindbare Hindernis. In einem Umfeld, das kulturell durch die Quasi- Dominanz auf einem bestimmten Markt geprägt war, war die innovative Neustrategie ein an sich unerwünschter Paradigmenwechsel.
Die Organisation, die sich durch die anstehenden fundamentalen Veränderungen der Liberalisierung ohnehin in Aufruhr befand, hatte auf einmal einen internen Kristallisationspunkt für ihre negative Befindlichkeit gefunden. Zusätzlich wurde allen bald klar, dass "die da oben" das Projekt zwar als eine mögliche Option für weitere Entwicklungen ansahen, es aber nicht ernsthaft genug unterstützten. Die logische Konsequenz war eine Abstoßreaktion des Systems in Bezug auf die Irritation, die dieses Projekt hervorgerufen hatte.
In der Managementpraxis wirkt die Unternehmenskultur als Orientierungsmaßstab für strategische Neuentwicklungen wie die "Körpersprache eines Unternehmens". Sie repräsentiert - in Analogie zum Eisbergmodell - den viel mächtigeren Teil des Eisbergs, der nicht sichtbar, gleichwohl aber immer spürbar, unterhalb der Wasserlinie liegt. Während die Spitze des Eisbergs die digitale Welt der Zahlen, Daten und Fakten, die "hard facts" der Geschäftsgrundlage, abbildet, zeigt die zweite Ebene der "soft facts", also der "weichen" Faktoren wie Werte, implizite Ge- und Verbote, Tabus, vorherrschende Glaubenssätzen usw. die tief verankerten Spielregeln. Sie sind als Repräsentant der Unternehmenskultur die oft entscheidende Dimension.
Verstöße gegen die Unternehmenskultur fallen genauso plakativ auf, wie eine unstimmige Körpersprache von Führungskräften und Entscheidungsträgern. Unternehmenskultur fungiert daher als einer der wichtigsten Wahrnehmungsfilter, der die Ausrichtung und Umsetzung im Strategieprozess indirekt (aber entscheidend) mitbestimmt. Besonders die Mitglieder des Top- Managements als Kernträger und Vorbilder strategischer Ausrichtung zeigen durch ihr bewusstes oder unbewusstes Verhalten, "wo Norden ist". Sind sie sich nicht einig, wird die strategische Neuausrichtung so lange vor sicher her getrieben, bis sie erschöpft im Labyrinth der impliziten Geheimaufträge zusammenbricht. Letztlich hat "man es ja versucht und sein Bestes gegeben" – um dann ganz entspannt beim Alten zu bleiben.
Lösungsalternativen: Strategie wird nicht umsonst die Königs-Disziplin des Managements genannt: Was von ganz oben nicht wirklich mitgetragen wird, ist zum Scheitern verurteilt. Die strategische Vision, das Zielbild, Meilensteine und Zwischenreviews müssen von der Führungsmannschaft gemeinsam genau abgeklärt, definiert und fixiert werden. Tabus und geheime Spielregeln müssen vorab sichtbar gemacht werden, um einen Strategieprozess ohne "hidden agendas" zu ermöglichen. Fritz B. Simon definierte den Strategieprozess einmal als "…Einschwören der relevanten Stakeholder auf ein gemeinsam beschlossenes Zielbild, wie die eigene Zukunft aussehen soll". Damit dieses "Einschwören" möglich wird und Commitment beim Einzelnen entstehen kann, braucht es Klarheit über das Ziel und Transparenz im Tun.
"The glass ceiling of strategy"- Startsituation im Strategieprozess
Hypothese: Die besten strategischen Überlegungen, die rein auf Zahlen, Daten und Fakten beruhen, lassen andere substantiell entscheidende Faktoren wie "unternehmerisches Gespür", emotionales "buy- in" aller Unternehmensebenen und intuitive Wahrnehmung außer Acht. Dadurch wird der eine Drache zur mehrköpfigen Hydra: Wenn man glaubt, ein Problem beseitigt zu haben, wachsen mindestens fünf weitere sofort nach.
Unser dynamischer Junker startete das Projekt aus einer Einzelinitiative heraus und verließ sich auf die Expertise von externen Beratern und Drachenexperten, die mit den vielfältigen Tools eines standardisiert perfekten Strategieprozesses alle logischen und linearen "hard facts" aufbereiteten. Was ihm nicht gelang, war, in allen relevanten Unternehmensebenen und –bereichen Bewusstsein und wohlwollende Aufmerksamkeit für dieses Projekt zu schaffen. Daher sahen sich die anderen Unternehmensteile auch nicht als Teilhaber dieser strategischen Neuausrichtung.
Im Gegenteil, je länger der Prozess andauerte, desto mehr boykottierten sie das Thema als Eingriff in ihren eigenen Handlungsspielraum, die "Machtleihe von oben" erodierte sichtbar und er scheiterte an einer "gläsernen Decke". In der Startphase der Strategieerstellung ist vor allem die Frage entscheidend, wie ein Unternehmen "blind spots", also das Übersehen von relevanten Umständen, vermeiden kann. Durch einseitige Konzentration auf Zahlen, Daten und Fakten wird auf bestimmte Wahrnehmungsbereiche fokussiert, während andere Faktoren bewusst und noch viel öfter unbewusst ignoriert werden. Der Fragenhorizont wird von vorn herein auf Gewohntes und Vertrautes eingeschränkt, intuitive Einsichten und unternehmerisches Bauchgefühl ausgeblendet. Je schneller und
komplexer das Umfeld wird, desto größer wird natürlich die Gefahr, dass diese Form der Komplexitätsreduktion langfristig mehr Schaden als Nutzen bringt.
Der kanadische Universitätsprofessor Henry Mintzberg, der u.a. den Klassiker "Strategiesafari" veröffentlicht hat, spricht daher von Emergenz als notwendigen Teil im Strategieprozess. Strategie sollte nicht nur "ganz oben" gemacht werden (neu-deutsch "top down"), sondern gemeinsam mit Unterstützung der Basis ("bottom up") gestaltet werden. Hier entsteht Strategie als spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften und Strukturen (emergent) in vielen kleinen Einzelschritten, eher evolutionär, "handwerklich" und faktisch. Wenn Abteilung XY für das konkrete Vorgehen bei Ausschreibungen eine besondere Strategie verfolgt und dazu Unterlagen mit einem bestimmten Standard entwickelt, mag das zwar für sich nur ein kleiner Einzelschritt sein, dennoch kann das für den Erfolg eines Unternehmens ebenfalls von großer Wichtigkeit sein (in Analogie dazu sprechen Juristen "von der normativen Kraft des Faktischen"). Das was dann (in einer ex-post Betrachtung) die tatsächlich realisierte Strategie ergibt, ist die Resultante aus beiden Teilen, dem beabsichtigten und dem emergenten Teil. Mintzberg spricht in diesem Zusammenhang auch von Strategie als einem "erkennbaren Muster in einem Strom von Entscheidungen".
Lösungsalternativen: Am Anfang eines Strategieprozesses geht es darum, eine möglichst große Komplexität zuzulassen, um die verschiedenen Dimensionen der strategischen Wahrnehmung – implizites und explizites Wissen und Erfahrung aus allen Unternehmensebenen – nutzen zu können. Innovative Zufälle ("was fällig ist, fällt zu") müssen auch Raum zur Entfaltung bekommen. Wichtig ist es, dass möglichst viele Beobachter im eigenen Unternehmen ihre Erkenntnisse und Eindrücke geordnet in das System einspeisen können und dies auch tun wollen. So könnte die Meinung des Fließbandarbeiters in der eigenen Fabrik über den Einsatz eines bestimmten Werkzeugs ähnlich wertvoll sein wie die ausgefeilte Analyse von externen Fachberatern. Ist im nächsten Schritt die strategische Stoßrichtung in einem gemeinsamen Dialogprozess klar genug herausgearbeitet, geht es darum, die Komplexität durch Entscheidungen zielgerichtet abzuschichten und weitreichend zu kommunizieren.
"The hard facts are easy but the soft facts are hard" (Steve de Shazer) - Die Gestaltung der Rolle des Strategen
Hypothese: Wie die Rolle eines Strategen in einer Organisation ausgebildet ist, welche Kompetenzen und Fähigkeiten – hard und soft facts - als wichtig und angebracht erachtet werden, entscheidet darüber, wie die strategieschaffende, aber vor allem auch die strategieumsetzende Führung gelebt werden kann.
In unserer Geschichte stürzte sich unser furchtloser Recke wie ein Ritter auf der Suche nach dem heiligen Gral ins internationale Geschehen – mit dem Willen des Heroen, siegreich aus dem Kampf zurückzukehren. Letztlich aber blockierte sein Tunnelblick alle aufkeimenden Gefühle von Unstimmigkeit und er reagierte darauf mit "mehr vom Selben". Auf der einen Seite stand der Auftrag des Vorstandes, die neue Geschäftsmöglichkeit einzuführen und aufzubauen, auf der anderen Seite musste er für die konkrete Umsetzung eigene Strategien und Vorgehensweisen entwickeln.
Einerseits konnte er auf die ursprüngliche "Machtleihe" durch den Projektauftrag zählen, andererseits blockierten ihn die beiden Hofmarschälle durch Gegenangriffe und die Basis wartete ganz einfach ab, wer als Gewinner aus diesem strategischen Match hervorgehen würde. In der klassischen Rolle eines Sandwich- Managers" wurde er so im Spannungsfeld zwischen strategieschaffender und stategieumsetzender Führung förmlich zerbissen, da ihm der Einblick in die Gesamt- und Machtstrategien des Konzerns fehlte. Aus dem erwarteten Karrieresprung wurde die unsanfte Landung in einem neuen Job, weil die Umsetzungsmöglichkeiten in einer Sackgasse endeten.
In der Gestaltung der Rolle des Strategen sind vor allem jene Kompetenzen gefragt, die beide Ebenen des "Eisbergs" (sichtbare und unsichtbare) miteinander verbinden. Als Mittler zwischen den Ebenen müssen Strategen orientierungsstiftende Entscheidungsgrundlagen für ein komplex-dynamisches Umfeld schaffen, das per definitionem aus Unsicherheit, Risiko und Nichtwissen besteht, nämlich der Zukunft selbst. Da sie selbst Teil des Systems sind, bleiben sie oft in dessen Logik gefangen und können sich nur schwer in eine Metaposition begeben, und alles "objektiv" von außen betrachten. Wenn dann noch zusätzliche Hemmnisse hinzukommen, wie z.B. Strategiekommunikation, die zur Einbahnstraße wird, weil die eigentliche Stoßrichtung nur im Top- Management verkündet wird, manches geheim bleibt und an der Basis nur "Stille- Post- Reste" landen, werden Strategen schnell zum internen Kristallisationspunkt negativer Einstellungen, zum emotionalen Puffer oder zum Sündenbock für unbeliebte Strategien.
Lösungsalternativen: Erfolgreichen Strategen gelingt es, von Anfang an sowohl hard als auch soft facts einzubeziehen und ausreichende Transparenz im Prozess herzustellen. Sie verschaffen sich zuerst selbst Klarheit über das, was unter der Wasseroberfläche vorgeht und sprechen dies bei den richtigen Stellen pro-aktiv an. Sie halten ihre ersten Ängste und Unsicherheiten im Strategienentwicklungsprozess aus und entwickeln ihre Kompetenzen im Bereich unternehmerisches Gespür, intuitive Wahrnehmungen und Umgang mit komplexdynamischen Systemen ständig weiter. Es gelingt ihnen, auf den verschiedenen Unternehmensebenen Deckungsgleichheit zu einem gemeinsamen Zielbild (Abgleich der mentalen Landkarten) herzustellen und das entsprechende Commitment einzuholen. Dabei legt ein erfolgreicher Stratege neben persönlichen Erfolgskriterien aber auch mögliche Exit-Kriterien eines Projektes ex- ante fest ("love it, change it or leave it"). Und immer öfter gestalten sie die Rolle des Strategen mehr als "Pferdeflüsterer" statt als einsam heroischer
"Drachentöter".
Autoren: Mag. Marion Schadler ist Geschäftsführerin der evolta - evolving executive careers
GmbH; Dr. Herbert Strobl, MC ist Inhaber von coaching & consulting mit system
Erschienen im Leader´s Circle 12/2010